Mehr als ein Dirigent

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In der Ukraine war Ivan Bohdanov ein bekannter Dirigent. Dann kam der Krieg auch in seine Heimatstadt Tschernihiw. Jetzt lebt er mit seiner Familie in Lich. Die Zukunft ist ungewiss, doch der Musiker behält seine Zuversicht und sagt erstaunliche Dinge: »Ich lebe in einer guten Zeit.«

Ivan Bohdanov hat einen neuen Chor. »Wilni« heißt er. Das ist Ukrainisch und bedeutet »Die Freien«. Die Sänger haben ein Weihnachtskonzert in der Gießener Pankratiuskapelle gestaltet. Sie proben regelmäßig in Räumen der THM oder der Stephanusgemeinde und planen ein weiteres Konzert. Alles ein bisschen kleiner, als Bohdanov es gewohnt ist. In seiner Heimat war er ein erfolgreicher Dirigent. Nun lebt er ein anderes Leben. Mit seiner Frau Viktoria und den drei Kindern hat er eine Bleibe in Lich gefunden. Was die Zukunft für sie alle bereithält? Er weiß es nicht.

Trotz allem macht der 37-Jährige im Gespräch einen ausgeglichenen Eindruck. Er erzählt lebhaft, hört aufmerksam zu und fragt präzise nach, wenn ihm etwas unklar erscheint. Zum Treffen hat ihn als Dolmetscherin Vitalina Pucci begleitet. Die Musikerin aus Lich, eine Freundin der Familie seit Kindertagen, hat ihm geholfen, in Deutschland Fuß zu fassen.

Bohdanov stammt aus Tschernihiw. Die alte Kulturstadt im Norden nahe der Grenze zu Weißrussland war in den ersten Wochen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine nahezu eingekesselt und lag mehrere Wochen lang unter heftigem Beschuss. Die Zerstörungen sind immens.

Als Ivan Bohdanov am 21. September 1985 zur Welt kam, war der Krieg noch fern. Er wurde in eine Musikerfamilie hineingeboren. Die Mutter Musikwissenschaftlerin, der Vater Sänger und Schauspieler. Wurde dem kleinen Ivan also das Künstlertum in die Wiege gelegt? Er lacht. Nicht zwangsläufig. Sein Bruder sei Priester geworden. Er selbst aber wurde im Alter von fünf Jahren von seiner Mutter ans Klavier gesetzt, sang in verschiedenen Kinderchören und hatte als Zehnjähriger sein Aha-Erlebnis bei einem Chorkonzert in der Verklärungskathedrale von Tschernihiw, der ältesten Kirche der Kiewer Rus, die die Angriffe vom vergangenen Frühjahr unbeschadet überstanden hat.

Bohdanovs Ausbildung als Chorleiter hat mehr als zehn Jahre gedauert: Abschluss an der Musikfachschule in Tschernihiw, Magister an der Nationalen Musikakademie Peter Tschaikowski in Kiew plus Aufbaustudium im Fach Opern- und Orchesterdirigat. Schon früh stellten sich Erfolge ein, nicht zuletzt mit dem Jugendchor »Sofia«, der auf internationalen Festivals zahlreiche Preise gewann. Schließlich der Coup: Bohdanov war noch Student, als ihn der Bortnjanski-Chor in Tschernihiw zum Chorleiter erwählte.

Tschernihiw ist ein Zentrum der Chormusik in der Ukraine, der Bortnjanski-Chor, benannt nach dem gleichnamigen Komponisten, einer der renommiertesten philharmonischen Chöre des Landes. Bohdanov war mit nur 24 Jahren der jüngste Leiter eines professionellen Ensembles, den die Ukraine je gesehen hat. Und dazu noch jünger als die ganzen Profis, deren Chef er nun sein sollte. Wie verschafft man sich da Autorität? Bohdanov erzählt, dass er sich an einem Diktum des berühmten Dirigenten Bruno Walter orientiert habe: Präzise Kenntnis der Partitur, Respekt für jedes einzelne Chormitglied.

Scheint funktioniert zu haben. Der groß gewachsene Mann berichtet begeistert von der Vielseitigkeit dieses Chores. Die Sänger seien für alles offen gewesen. Für Bach genauso wie für moderne Musik oder die Werke ukrainischer Komponisten, die insbesondere nach 2014, also der Annexion der Krim, in den Fokus rückten. Schon vorher hatte das Ensemble alle 35 Chorkonzerte seines Namensgebers Bortnjanski auf CD aufgenommen. »Sie gelten in allen Musikschulen der Ukraine als Lehrwerk«, weiß Vitalina Pucci, die Bohdanovs Werdegang von Deutschland aus mit Interesse verfolgt hat.

Für Furore sorgten der Dirigent und seine Sänger mit einem neuen Genre, das sie selbst entwickelt hatten: Chortheater. »Mainstream hat mich nie interessiert«, sagt Bohdanov, der freiberuflich als Coach für kreatives Denken arbeitete und seine Methoden nur zu gern auf seine musikalische Arbeit übertrug. Gleich der erste Versuch, die »Musica incognita« mit Werken anonymer Komponisten vor dem Hintergrund biblischer Geschichten, muss ein ziemliches Spektakel gewesen sein. Bilder, die der 37-Jährige auf seinem Handy gespeichert hat, zeigen imposante Bühnenbilder, vor denen sich die Sänger ohne Partitur frei bewegten. Er habe die Grenzen der Gattungen austesten wollen, sagt der Opernfan.

Der Erfolg gab ihm recht. Nach der Premiere seien sämtliche Vorstellungen und auch die folgende Tournee ausverkauft gewesen. Ebenso das nächste Projekt, das noch ein paar Nummern größer war und dem ukrainischen Publikum die Spirituals der amerikanischen Sklaven näherbrachte. »Welcome to Slavery«, ein Happening mit interaktiven und digitalen Elementen, war so aufwendig, dass es nur einmal gespielt werden konnte. Wie setzt man ein solches Projekt durch? Bohdanov lacht: »Ich war der Chef.« Nebenbei: Die Aufführung sei auch unter finanziellen Gesichtspunkten ein Erfolg gewesen.

Daheim in der Ukraine kreiste sein ganzes Dasein um seinen Beruf. Das hat sich mit dem 24. Februar schlagartig geändert. Nach dem Angriff harrte die Familie mit den drei Kindern zehn Tage lang im Keller aus, dann wagten sie mit weiteren Verwandten die gefährliche Flucht. Zu neunt in ein Auto gequetscht und vorbei an explodierenden Fahrzeugen gelangten sie erst nach Polen, dann nach Lich.

Ivan Bohdanov gehört zu den ukrainischen Musikern, die für das Projekt »Friedensmusik« mit dem hessischen Integrationspreis ausgezeichnet wurden. Bei einer Feier im Zuge der Preisverleihung hat er sich in einer zu Herzen gehenden Rede mit seiner Situation im Exil auseinandergesetzt. Wer sei er denn nun ohne den Beruf, der seine Identität ausmachte? Konnte er die Frage für sich mittlerweile beantworten? Er nickt. Durch Krieg und Schrecken haben sich seine Prioritäten verschoben. Er habe verstanden, dass er mehr sei als ein Dirigent. Dass es Dinge gibt, die wichtiger sind. Die Sicherheit und die Gesundheit seiner drei Kinder stehen für ihn an allererste Stelle. Dahinter tritt alles andere zurück. »Ich habe meine Kinder immer geliebt«, sagt er. »Wie sehr ich sie liebe, weiß ich erst jetzt.«

Ob er Pläne hat für die Zukunft? Er schüttelt den Kopf. Nein, keine Pläne. Aber verschiedene Szenarien. Eines für die Rückkehr in die Ukraine, ein zweites für ein Leben in Deutschland. Welches er realisieren kann, das liege nicht in seiner Macht. Gegen Ende des Gesprächs sagt er dann noch einen ganz erstaunlichen Satz. Er lebe in einer guten Zeit. Eine Zeit, in der die Welt offen ist.